Interview:
Der eritreische Seelsorger Mussie Zerai zur Lage der Eritreer in der Schweiz
Der eritreische Seelsorger Mussie Zerai zur Lage der Eritreer in der Schweiz
"Jeder
Mensch will ein würdevolles Leben"
Zürich,
5.6.13 (Kipa) Mussie Zerai, Priester und Seelsorger der Eritreer in der
Schweiz, sprach im Hinblick auf die Abstimmung zur Asylgesetzrevision am 9.
Juni mit der Presseagentur Kipa über die Lage der Eritreer in der Schweiz, die
Religion als Faktor der Integration und über die Dringlichkeit, die Würde des
Menschen zu wahren.
Frage:
Herr Zerai, der Bund möchte die Möglichkeit, Asylgesuche auf Schweizer
Botschaften im Ausland zu stellen, abschaffen. In den vergangenen 20 Jahren
haben knapp 2.000 Menschen davon Gebrauch gemacht. Ist diese Änderung nicht
vernachlässigbar?
Mussie
Zerai: Leben ist nicht in Zahlen zu messen. Auch wenn es bloss eine einzige
Person wäre, die auf legalem Weg gerettet werden könnte, lohnt es sich, das
Recht auf Asylantrag im Ausland aufrecht zu erhalten. Streicht die Schweiz
diese Möglichkeit, wird der einzige legale Weg des Asylantrags versperrt. Die
Leute kommen weiterhin, aber illegal, mithilfe von Schleppern.
Frage:
Eine weitere Verschärfung des Gesetzes sieht vor, Wehrdienstverweigerung nicht
länger als Asylgrund zu akzeptieren. Eritreer in der Schweiz sind zu 90 Prozent
Wehrdienstverweigerer. Was bedeutet diese neue Regelung für die Betroffenen?
Zerai:
Jetzt sind zu viele Eritreer in der Schweiz, und sie kommen alle wegen des
Militärs. Also sagt die Regierung: Streichen wir den Grund
Wehrdienstverweigerung. Wenn in zehn Jahren zu viele Syrer kommen, was tun wir?
Streichen wir einen weiteren Grund? Die Menschenrechtskonvention sagt: Jeder,
der verfolgt wird, hat Recht auf Asyl, egal, weswegen. Der Militärdienst in
Eritrea ist kein Wehrdienst, sondern moderne Sklaverei.
Frage:
Kritisieren Sie also die Asylgesetzrevision als Ganzes?
Zerai:
Die Schweiz hat das Recht, die Zuwanderung zu regeln. Unter der Voraussetzung,
dass die Grundrechte gewahrt werden. Die Fluchtgründe sind heute ohnehin
vielfältiger als vor 50 Jahren. Man sollte die Palette der Fluchtgründe also
erweitern, nicht einschränken. Die Revision soll nicht dazu dienen, die Grenzen
zu schliessen. Nur, weil die Flüchtlinge nicht mehr zu uns kommen, heisst das
ja nicht, dass sie nicht mehr existieren. Im Gegenteil: Sie sind noch da, und
sie leben noch gefährlicher.
Frage:
Was wäre also die Lösung?
Zerai:
Die Schweiz sollte nicht abhängig vom Personenfluss die Regeln ändern.
Stattdessen sollte man seriös evaluieren, ob die Personen, die kommen, alle
Kriterien erfüllen, aufgenommen zu werden. Man sollte sich nicht von einer
Zuwanderungszahl erschrecken lassen. Die internationale Gemeinschaft sollte
sich zudem engagieren, die Situation in den Ursprungsländern zu verbessern.
Niemand ist glücklich, sein Land zu verlassen, wenn er nicht muss. Eritrea ist
eine Diktatur, das ist das Problem.
Frage:
Aber viele Leute in der Schweiz haben nunmal Angst vor kriminellen Ausländern.
Was sagen Sie denen?
Zerai:
Immigranten sind nicht automatisch Kriminelle. In jeder Gesellschaft gibt es
Straffällige, egal, woher sie kommen. Der Staat sollte gemeinsame Räume von
Schweizern und Ausländern fördern. Damit die Schweizer die Kultur des Anderen
kennenlernen. Die Angst wächst aus dem Unwissen über den anderen.
Frage:
Die Eritreer stellen die meisten Asylgesuche in der Schweiz, sind in der
Kriminalstatistik aber die Schlusslichter. Warum ist das so?
Zerai:
Das Schweizer System hilft sehr, weil es den Asylsuchenden ein Minimum an
Lebenshilfe bietet. Das ist in anderen Staaten wie Italien nicht gegeben. Dort
schlafen die Asylsuchenden auf der Strasse. Sie werden kriminell, weil sie
überleben müssen. In der Schweiz muss niemand kriminell werden, weil er die
nötige Unterstützung erhält. Es liegt ausserdem nicht in unserer Kultur,
kriminell zu sein. Da hilft sicher auch der gemeinsame christliche Glaube.
Gleiche Werte verbinden.
Frage:
Die Religion hilft also, sich zu integrieren?
Zerai:
Die Religion ist nunmal eine gemeinsame Basis, das erleichtert eine
Integration. Was umgekehrt nicht bedeutet, dass nichtchristliche Menschen nicht
integriert werden können. Aber die Sache ist komplizierter. Wir haben hier
gemeinsame Kirchen, wir kommen in Kontakt mit anderen Christen.
Frage:
Wie sehr sind die Eritreer in der Schweiz integriert?
Zerai:
Auch hier gibt es Schwierigkeiten bei der Integration. Der Grundsprachkurs ist
zwar gegeben, aber die Leute lernen in der Schule nicht das Deutsch, das beim
Bäcker gesprochen wird. Also bleibt das Problem der Kommunikation. Auch finden
die Leute in der Schweiz kaum Arbeit, weil die Vermittlungsagenturen ein Diplom
oder Berufserfahrung verlangen. Aber die Eritreer haben keine Berufserfahrung
oder ein Studium, sie waren ja über Jahre im Militär. Es wäre daher wichtig,
dass die Schweiz Praxiskurse wie Einführung in den Handwerkerberuf oder in
kaufmännische Arbeit anbietet, damit die Leute Berufserfahrung vorweisen
können.
Frage:
Was erhoffen Sie sich für den 9. Juni?
Zerai:
Dass die Öffentlichkeit die Bedeutung der Menschenrechtskonvention begreift.
Man soll dieses Asylgesetz nicht immer modifizieren, je nachdem, woher der
Menschenstrom gerade kommt. Die Menschen flüchten, weil sie ihr Leben retten
wollen. Manche hier denken, die Eritreer kommen in die Schweiz, weil sie sich
ein schönes, reiches Leben machen wollen. Dabei wollen sie einfach ein
würdevolles Leben – so, wie alle Menschen sich das wünschen.
Separat
1:
Mussie
Zerai
Pfarrer
Zerai wurde 1975 in Asmara, Eritrea, geboren. Mit 16 Jahren kam er durch ein
Asylgesuch nach Italien. 2006 gründet er das Hilfswerk "Habeshia" mit
dem Ziel, Migranten und Flüchtlinge bei der Berufsausübung und der Integration
zu unterstützen. Seit 2010 ist er geweihter Priester. Er weilt regelmässig in
der Schweiz, um Eritreer in der Schweiz seelsorgerisch zu unterstützen. 2012
war Mussie Zerai einer der Kandidaten für den Nansen-Flüchtlingspreis, den das
Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge verleiht.
Separat
2:
Abstimmung
Asylgesetzrevision
Am 9.
Juni kommt die dringliche Revision des Asylgesetzes vor das Schweizer
Stimmvolk. Die Revision war Ende September vom Parlament per sofort in Kraft
gesetzt worden. Für das Referendum hatten die jungen Grünen zusammen mit
anderen linken, kirchlichen und asylrechtlichen Organisationen mehr als 63.000
Unterschriften gesammelt. Sie sehen die humanitäre Tradition der Schweiz von
der Revision bedroht. Die Gegner der Verschärfung kritisieren im Kern die
Ablehung der Wehrdienstverweigerung als Asylgrund sowie die Auflösung der
Möglichkeit, auf Schweizer Botschaften im Ausland Asyl zu beantragen.
(kipa/arch/ami/bal)
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